
Wichtigste Erkenntnisse
- Kann Cannabis gegen Migräne wirken? Erste Beobachtungsstudien und erste kontrollierte Untersuchungen über Cannabis und Migräne weisen auf eine Reduktion von Schmerzstärke und Häufigkeit von Migräneattacken hin, jedoch fehlen noch umfangreiche klinische Studien.
- Die Cannabinoide THC und CBD wirken über unterschiedliche Mechanismen und könnten zusammen einen synergistischen Effekt („Entourage-Effekt“) bei Migräne erzielen.
- Die Wirksamkeit hängt möglicherweise stark von individuellen Faktoren, Cannabissorten und Terpenprofilen ab. Eine ärztlich begleitete und personalisierte Therapie ist entscheidend.
Migräneschmerzen können das Leben von Betroffenen extrem beeinträchtigen. Migräne gehört zu den häufigsten neurologischen Krankheiten weltweit und betrifft laut Weltgesundheitsorganisation WHO über eine Milliarde Menschen. Die genauen Ursachen von Migräneanfällen sind bislang noch nicht vollständig geklärt. Hierbei könnten genetische Faktoren und Umwelteinflüsse eine Rolle spielen.
Viele Menschen mit Migräne sprechen auf herkömmliche Medikamente nicht ausreichend an oder können diese aufgrund von Nebenwirkungen nicht vertragen. Deshalb suchen zunehmend mehr Betroffene nach alternativen Therapieoptionen und Behandlungsmöglichkeiten, zu denen auch der Einsatz von medizinischem Cannabis als ergänzende Therapie in der modernen Medizin zählt.
In diesem Artikel erfährst du, welche möglichen Effekte Cannabis auf Rezept bei Migräne haben kann, welche Darreichungsformen es gibt und worauf Betroffene achten sollten.
Was versteht man unter Migräne?
Migräne ist eine neurologische Erkrankung, die sich deutlich von normalen Kopfschmerzen unterscheidet. Im Gegensatz zu Spannungskopfschmerzen, die meist beidseitig, dumpf und drückend ohne Begleiterscheinungen auftreten, kann Migräne eine Vielzahl an Symptomen und Begleiterscheinungen verursachen:
- Migräne verursacht meist einseitige, pulsierende Schmerzen, die sich bei Bewegung verstärken können.
- Begleitsymptome können Übelkeit, Licht- und Lärmempfindlichkeit sein, wobei die Intensität stark variieren kann.
- Vor den Schmerzen kann bei manchen Patienten eine Aura auftreten, die Sehstörungen, Sprachschwierigkeiten oder Missempfindungen umfasst und 5 bis 60 Minuten dauern kann
Migräne, Cannabis und das Endocannabinoid-System
Das Endocannabinoid-System (ECS) ist ein wichtiges körpereigenes Steuerungssystem, das dabei hilft, das innere Gleichgewicht des Körpers aufrechtzuerhalten. Es besteht aus speziellen Rezeptoren, die sich wie kleine Schlösser an den Zellen in verschiedenen Organen befinden, und körpereigenen Botenstoffen, die als Schlüssel fungieren. Diese Botenstoffe heißen Endocannabinoide.
Wenn der Körper einen bestimmten Reiz bekommt, werden diese Endocannabinoide auf Abruf produziert und binden dann an die Rezeptoren, wodurch sie diese aktivieren und bestimmte Körperfunktionen regulieren, darunter auch die Verarbeitung der Schmerzsignale. Danach bauen Enzyme diese Botenstoffe wieder ab, damit die Wirkung nur zeitlich begrenzt anhält.
THC, der psychotrope Wirkstoff aus der Cannabispflanze, wirkt auf dieses System, weil es dem körpereigenen Anandamid sehr ähnlich ist; er passt also fast wie ein Schlüssel in die gleichen Rezeptoren und kann dadurch vergleichbare Effekte auslösen.
Die Hypothese des Klinischen Endocannabinoid-Mangels
Mehrere Studien weisen darauf hin, dass Menschen mit Migräne möglicherweise einen sogenannten „klinischen Endocannabinoid-Mangel" haben. Dies ist eine wissenschaftliche Hypothese, die 2004 zuerst von dem Cannabis Forscher Ethan Russo formuliert wurde [1].Neuere Forschungsarbeiten stützen diese Hypothese für Migräne [2]. So zeigen Untersuchungen, unter anderem von Sarchielli und Kollegen [3], dass bei vielen Migränepatienten im Vergleich zu Kontrollpersonen Veränderungen oder ein Ungleichgewicht in den gemessenen Endocannabinoidwerten vorliegen.
Die „Clinical Endocannabinoid Deficiency“ (CED)-Hypothese wird auch heute noch von vielen Wissenschaftlern weiterhin als interessante und mögliche Erklärung für bestimmte chronische Erkrankungen, darunter Migräne, Fibromyalgie und Reizdarmsyndrom, diskutiert.
Aktuelle Forschung zu Cannabis bei Migräne
- 2020 zeigte eine große App-basierte Auswertung, dass inhalatives Cannabis bei über 12.000 dokumentierten Migräne Anwendungen möglicherweise zu einer Verbesserung der Schmerzstärke beitragen könnte [4]. Allerdings nahm die beobachtete Wirkung bei längerer Anwendung ab, was auf eine mögliche Toleranzentwicklung hindeuten könnte.
- In einer systematischen Review wurden 12 Studien aus den USA, Kanada und Israel mit insgesamt fast 2000 Teilnehmern analysiert und man fand Hinweise auf eine mögliche Reduktion von Migräne-Tagen, Kopfschmerzfrequenz, Migränehäufigkeit und begleitender Übelkeit durch medizinisches Cannabis [5]. Die Daten stammen überwiegend aus Beobachtungsstudien; randomisierte klinische Studien fehlen bislang weitgehend.
- In Kanada ergaben 2022 Befragungen in Kopfschmerzkliniken, dass etwa ein Drittel der Betroffenen Cannabis gegen Migräne nutzt. Rund ein Viertel berichtete von weniger Attacken, und rund 60 % von einer geringeren Schmerzstärke [6].
- In einer ersten randomisierten kontrollierten Studie erhielten Patienten mit akuter Migräne vaporisiertes Cannabis in Blütenform oder Placebo. Ein Präparat mit den beiden pflanzlichen Cannabinoiden THC und CBD zeigte eine höhere Wahrscheinlichkeit für Schmerzreduktion nach zwei Stunden als Placebo.
Es gibt im übrigen keinen direkten wissenschaftlichen Nachweis, dass Marihuana als spezifischer Auslöser einer Migräne dienen kann; aktuelle klinische Studien sehen dies nicht bestätigt. Es ist aber möglich, dass ein chronischer Übergebrauch von Cannabis ähnlich wie beim chronischen Übergebrauch anderer Medikamente, selbst auch Migräne auslösen könnte [7].
THC und CBD bei Migräne
Die pflanzlichen Cannabinoide THC (Delta-9 Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) sind sich zwar in ihrer Struktur ähnlich, wirken aber im Körper über ganz unterschiedliche Wege und könnten so Migräne unterschiedlich beeinflussen. So vermittelt CBD seine Wirkungen weit weniger direkt über das Endocannabinoid-System als THC, sondern unter anderem über eine Vielzahl an anderen körpereigenen Rezeptoren.
Eine aktuelle wissenschaftliche Studie von Schuster und seinen Kollegen hat untersucht, wie sich verschiedene Zusammensetzungen von Cannabis auf akute Migräneattacken auswirken könnten [8].
Dabei wurden 92 Patientinnen und Patienten mit Migräne in die vier folgenden Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe erhielt unterschiedliche Cannabispräparate zur Einnahme:
Gruppe | Zusammensetzung der Cannabis-Kapsel (THC/CBD) | Mögliche Wirkung 2 Stunden der Einnahme | Bemerkungen / Studienhinweis |
1 | 6 % THC | Hinweise auf mögliche Schmerzlinderung | THC kann auf das zentrale Nervensystem wirken und bestimmte Rezeptoren modulieren |
2 | 11 % CBD | Hinweise auf mögliche Schmerzlinderung | CBD kann vorwiegend entzündungshemmend wirken, ohne psychoaktive Effekte zu verursachen |
3 | 6 % THC + 11 % CBD | Deutliche Symptomverbesserung möglich | Synergieeffekt / Entourage-Effekt möglich, Kombination könnte besonders wirksam sein |
4 | Placebo | Keine nennenswerten Effekte | Kontrollgruppe |
Diese Studie liegt allerdings bisher nur als Vorabdruck vor. Sie wurde noch nicht durch das sogenannte Peer Review, also die Überprüfung durch unabhängige Fachleute, bewertet, um die Ergebnisse weiter zu bestätigen.
Die mögliche Rolle von Terpenen
Während Schuster erste Hinweise liefern konnten, dass eine Kombination aus THC und CBD bei akuter Migräne zu bevorzugen sein könnte, gibt es auch andere Studien und Erfahrungsberichte [9], die die Bedeutung der Terpene ebenfalls in den Vordergrund rücken:
- Patientinnen und Patienten mit Migräne scheinen bestimmte Cannabis-Sorten zu bevorzugen, die besonders viel THC enthalten.
- Diese Sorten enthalten auch bestimmte Terpene (β-Caryophyllen und β-Myrcen), also natürliche Pflanzenstoffe, die möglicherweise auf entzündliche Prozesse im Körper wirken können.
- Die beobachteten Wirkungen (z. B. Linderung von Migräne) könnten also nicht nur vom Zusammenspiel von THC und CBD abhängen, sondern auch von diesen Terpenen.
- Wissenschaftlich gesehen reicht die aktuelle Datenlage noch nicht aus, um allgemeine Empfehlungen für THC-CBD-Kombinationen bei Migräne zu geben. Es sind weiterführende Studien notwendig, die Cannabinoid- und Terpenprofile getrennt untersuchen.
Individuelle Wirkung von Cannabis
Es ist zusätzlich wichtig zu beachten, dass Cannabis auf jeden Menschen sehr individuell wirken kann. Ebenso gibt es unterschiedliche Formen und Verursachungen der Migräne, die verschiedene therapeutische Ansätze erfordern können. Die Wirkung von Cannabis-basierten Therapien kann daher von Person zu Person erheblich variieren.
Patienten sollten ausschließlich unter ärztlicher Anleitung ihren individuellen therapeutischen Weg gehen, um gemeinsam mit ihrem Arzt eine geeignete Cannabis Sorte und die passende Dosierung und Anwendungsart zu finden [10]. Eine kontinuierliche medizinische Begleitung ist für eine sichere und effektive Behandlung unerlässlich.
Fazit: Chancen und Grenzen von Cannabis bei Migräne
Die Faktenlage aufgrund der Studienlage zu Cannabis bei Migräne ist wachsend, aber noch begrenzt. Erste Beobachtungsdaten und kleinere kontrollierte Studien deuten darauf hin, dass Cannabis gegen Migräne helfen könnte. Jedoch fehlen bislang umfangreiche randomisierte Studien. Weitere Forschung wird nötig sein, um den Fokus auf die individuelle Wirkung und die optimale Anwendung von Cannabis bei Migräne zu richten und präzisere Empfehlungen zur Patientenauswahl zu ermöglichen.
Es gibt viele Erfahrungsberichte von Anwendern, denen die Einnahme von Cannabis bei der Behandlung von Migräneattacken helfen konnten. Allerdings kann der Nutzen von Cannabis bei Migräne so unterschiedlich ausfallen wie die Anfälle selbst. Deshalb ist eine ärztliche Begleitung bei der Anwendung besonders wichtig.
Rechtlicher Hinweis
Dieser Artikel dient ausschließlich der neutralen Information und ersetzt keine ärztliche Beratung. Die Anwendung von medizinischem Cannabis in Deutschland erfordert eine ärztliche Verschreibung und sollte nur unter medizinischer Aufsicht erfolgen.
Quellen
- Russo, E.B. (2008): Clinical endocannabinoid deficiency (CED) revisited: Can this concept explain therapeutic benefits of cannabis in migraine, fibromyalgia, irritable bowel syndrome and other treatment-resistant conditions? In: Neuro Endocrinology Letters, 29(2), S. 192-200. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/15159679/
- Greco, R., Demartini, C., Zanaboni, A.M., Piomelli, D., & Tassorelli, C. (2018). Endocannabinoid system and migraine pain: An update. Frontiers in Neuroscience, 12, 172. https://www.frontiersin.org/journals/neuroscience/articles/10.3389/fnins.2018.00172/full
- Sarchielli, P., Pini, L.A., Coppola, F., Rossi, C., Baldi, A., Mancini, M.L., & Calabresi, P. (2007). Endocannabinoids in chronic migraine: CSF findings suggest a system failure. Neuropsychopharmacology, 32(6), 1384–1390. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17119542/
- Cuttler, C., Spradlin, A., Cleveland, M.J., & Craft, R.M. (2020). Short- and long-term effects of cannabis on headache and migraine. The Journal of Pain, 21(5–6), 722–730. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31715263/
- Aviram, J., Okusanya, B.O., Cairns, E.A., Dingwall, T.E., Fitzcharles, M.A., Häuser, W., Hassanzadeh, P., Hauser, W., Katz, D., MacNair, L., Moulin, D.E., Murphy, Y., Patten, S.B., Ste-Marie, P.A., Sultan, N., & Ware, M.A. (2022). Medical cannabis for the treatment of migraine in adults: A review of the evidence. Frontiers in Neurology, 13, 871187. https://www.frontiersin.org/journals/neurology/articles/10.3389/fneur.2022.871187/full
- Melinyshyn, A. N., & Amoozegar, F. (2022). Cannabinoid use in a tertiary headache clinic: A cross-sectional survey. Canadian Journal of Neurological Sciences, 49(6), 781–790. https://www.cambridge.org/core/journals/canadian-journal-of-neurological-sciences/article/cannabinoid-use-in-a-tertiary-headache-clinic-a-crosssectional-survey/6CA77970DC9AB5D053E5DA9E2C2E3D44
- Baron, E.P. (2018). Medicinal properties of cannabinoids, terpenes, and flavonoids in cannabis, and benefits in migraine, headache, and pain: An update on current evidence and cannabis science. Headache: The Journal of Head and Face Pain, 58(7), 1139–1186. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34370866/
- Schuster, N.M., et al. (2024). Vaporized cannabis versus placebo for acute migraine: A randomized controlled trial. medRxiv. https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2024.02.16.24302843v1
- Zhang, N., Houle, T.T., Hindiyeh, N.A., & Aurora, S.K. (2021). Medication overuse headache in patients with chronic migraine using cannabis: A case-referent study. Headache, 61(5), 700–709. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30152161/
- Bell, A.D., MacCallum, C., Margolese, S., Walsh, Z., Wright, P., Daeninck, P.J., Mandarino, E., Lacasse, G., Deol, J.K., de Freitas, L., St. Pierre, M., Belle-Isle, L., Gagnon, M., Bevan, S., Sanchez, T., Arlt, S., Monahan-Ellison, M., O’Hara, J., Boivin, M., & Costiniuk, C. (2024). Clinical Practice Guidelines for Cannabis and Cannabinoid-Based Medicines in the Management of Chronic Pain and Co-Occurring Conditions. Cannabis and Cannabinoid Research, 9(2), 669–687.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36971587/