
Inhaltsverzeichnis
Wichtigste Erkenntnisse
- Methodische Inkonsistenzen schwächen die Ganjour Studie erheblich: Gandjour rechnet zwar mit Gesundheitsgewinnen durch sauberes Cannabis, verwendet aber bei den Risiken weiterhin Schwarzmarkt-Daten – ein logischer Widerspruch.
- Fragwürdige Annahmen zu Konsum und Abhängigkeit: Die Studie unterstellt hohe Zuwachsraten und eine pauschale CUD-Quote von 10 %, ohne die Schutzfaktoren regulierter Märkte zu berücksichtigen.
- Korrelation statt Kausalität bei psychischen Erkrankungen: Die Analyse interpretiert Zusammenhänge vorschnell als kausal und blendet Störfaktoren wie soziale Lage oder genetische Prädispositionen aus.
- Vorteile regulierter Märkte unterschätzt: Bessere Produktsicherheit, Harm-Reduction, Prävention und medizinische Nutzung werden nicht ausreichend gewürdigt.
- Internationale Evidenz widerspricht Pauschalurteil: Erfahrungen aus Kanada, den USA und Portugal zeigen ein differenzierteres Bild – Konsumzuwächse bleiben begrenzt, Schwarzmarktanteile sinken, Prävention profitiert.
Die kürzlich veröffentlichte Studie „A quantitative projection of the net health effects of cannabis legalization in Germany“ von Afschin Gandjour sorgt für Diskussionen (1) – und es ist zu erwarten, dass sie noch oft von Gegnern der Legalisierung zitiert wird.
Der Wirtschaftswissenschaftler der Frankfurt School of Finance & Management prognostiziert erhebliche gesundheitliche Nachteile durch die Teillegalisierung und kommt zu dem Schluss, dass die Gesundheitsschäden und Gefahren durch erhöhten Konsum die Vorteile durch weniger verunreinigtes Cannabis um das Neunzehnfache übersteigen würden. Die Analyse weist jedoch mehrere gravierende methodische Schwächen auf und vernachlässigt zentrale Aspekte einer regulierten Cannabis-Abgabe.
In diesem Artikel setzen wir uns kritisch mit der Studie auseinander und zeigen, welche Schwächen ihre Schlussfolgerungen haben und welche Aspekte einer regulierten Abgabe unberücksichtigt bleiben.
Methodische Widersprüche und inkonsistente Annahmen
Ein zentrales Problem der Gandjour-Studie sind Grundlagen in der Bewertung von Gesundheitsrisiken, die sich widersprechen. Besonders deutlich wird dies am Umgang mit Verunreinigungen im Cannabis, da es hier einen logischen Widerspruch bei der Behandlung von Verunreinigungen gibt.
Inkonsequente Behandlung von Verunreinigungen
Einerseits rechnet Gandjour damit, dass durch die Legalisierung jährlich 100–1.000 Fälle von Gesundheitsschäden durch verunreinigtes Cannabis vermieden werden. Andererseits verwendet er für die Berechnung der Gesundheitsrisiken neuer Konsumentinnen und Konsumenten nach der Legalisierung dieselben Schadensraten wie unter Schwarzmarktbedingungen.
Diese Vorgehensweise und Annahmen sind methodisch inkonsistent, da die Regulierung den Cannabis Konsum von verunreinigtem Cannabis minimiert. Dadurch müssten auch alle Konsumierenden im legalen Markt von saubererem, sichererem Cannabis profitieren. Die Studie wendet hier also unterschiedliche Standards an: Sie berechnet die Nachteile mit Schwarzmarkt-Risikoraten, während sie die Vorteile nur für die direkten Verunreinigungsfälle zählt.
In einem regulierten Markt würden sich voraussichtlich die Risikoprofile aller Konsumierenden verbessern. Dies könnte durch standardisierte THC-Gehalte, das Fehlen synthetischer Cannabinoide und Streckmittel, bessere Dosierungsinformationen sowie verfügbare CBD-haltigen Produkte passieren. (2). Dieses systematische Potenzial von der Verbesserung der Produktsicherheit ignoriert die Studie vollständig.
Fragwürdige Grundannahmen (Konsumzuwachs & CUD-Rate)
Die Studie unterstellt zudem, dass bereits ein Anstieg des Marihuana Konsums um 1 % nach der Legalisierung zu einem Netto-Gesundheitsschaden auf Bevölkerungsebene führen würde (1). Diese Annahme ist problematisch, weil sie ebenfalls das Potenzial der Vorteile einer regulierten Abgabe gegenüber dem Schwarzmarkt systematisch unterschätzt.
Zudem wird auch fälschlicherweise angenommen, dass 10 % aller Konsumierenden eine Cannabis-Konsumstörung (Cannabis Use Disorder, CUD) entwickeln. Dieser Wert berücksichtigt allerdings nicht, dass regulierte Märkte mit Qualitätskontrollen, Beratungsangeboten und altersgerechtem Zugang einhergehen. Dadurch würden sich Abhängigkeitsraten auch verringern (3). Ein Blick in kanadische Studien mit legalisiertem Cannabis zeigt zudem ein differenzierteres Bild. Dieses hängt stark von der konkreten Ausgestaltung der Regulierung und Politik ab (5).
Kausalität vs. Korrelation bei psychischen Erkrankungen
Wie viele Forschende und Medien interpretiert auch Gandjour den Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und psychischen Erkrankungen (z. B. Schizophrenie oder Depressionen) häufig vorschnell als kausal. Die Datenlage ist jedoch deutlich komplexer (6,7).
- Ein zentrales Problem ist das klassische Korrelation-vs.-Kausalität-Dilemma: Der statistische Zusammenhang zwischen Cannabis und Psychosen bedeutet nicht automatisch, dass Cannabis die Ursache ist. Viele Betroffene mit einer genetischen oder familiären Vorbelastung konsumieren Cannabis eher begleitend, etwa zur Selbstmedikation gegen frühe Symptome wie Angst oder Schlafstörungen. Dennoch entsteht hier der Anschein einer Ursache-Wirkungs-Beziehung.
- Konfundierende Faktoren: Verschiedene Drittvariablen beeinflussen sowohl die Wahrscheinlichkeit, Cannabis zu konsumieren, als auch das Risiko, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Dadurch kann ein falscher Eindruck einer direkten Ursache entstehen.
- Hinzu kommen weitere konfundierende Faktoren: Dazu zählen sozioökonomische Belastungen wie Armut oder hoher Stress, traumatische Kindheitserfahrungen, eine genetische Disposition für psychische Erkrankungen sowie der gleichzeitige Konsum anderer Substanzen (7).
- Ein einfaches Beispiel zur Veranschaulichung des Begriffs "konfundierender Faktor": Der Zusammenhang lässt sich mit dem Eis-und-Ertrinken-Beispiel erklären: Im Sommer steigt sowohl der Eiskonsum als auch die Zahl der Badeunfälle. Eis ist nicht die Ursache, sondern das warme Wetter wirkt als dritter Faktor. Genauso können beim Cannabiskonsum äußere Bedingungen den Zusammenhang mit Psychosen erklären.
Unterschätzte Vorteile eines regulierten Cannabis-Marktes
Gandjours Berechnung zufolge würde der Schaden durch erhöhten Konsum die Vorteile sauberer Produkte um das Neunzehnfache übersteigen. Dies erscheint sehr unrealistisch, da die Studie auch die Gesundheitsgefahren des Schwarzmarkts unterschätzt:
Risikoquelle | Beschreibung | Mögliche Folgen |
Synthetische Cannabinoide (z. B. „Spice“) | Auf minderwertiges Pflanzenmaterial aufgesprüht und als Cannabis verkauft | Schwere Vergiftungen, Krampfanfälle, Todesfälle, bleibende neurologische Schäden (2) |
Streckmittel und Verunreinigungen (z. B. Blei, Pestizide, Schimmelsporen) | Für Konsumierende unsichtbar, stellen ein unkontrollierbares Risiko dar | Chronische Schäden wie Lungenprobleme und Organschäden |
Medizinischer Nutzen von Cannabis bleibt unberücksichtigt
Ein weiterer gravierender Mangel der Studie ist das Ausblenden des medizinischen Cannabisgebrauchs. Laut Branchenexperten gibt es bereits in Deutschland 200.000 oder mehr Patienten, die legal Cannabis zur Behandlung chronischer Schmerzen, neurologischer Erkrankungen und vieler anderer Leiden nutzen.
Die Legalisierung und Regelungen im medizinischen Bereich erleichtern den Zugang, reduzieren Stigmatisierung und könne Teilhabe fördern. Viele Patienten berichten auch, dass medizinisches Cannabis ihnen ermöglicht, wieder zu arbeiten. Dies könnte wiederum einen positiven Effekt auf Krankheitstage, Erwerbsunfähigkeitsrenten und Pflegekosten haben. Außerdem könnte die Umstellung gefährlicherer Medikamente, insbesondere Opioide, auf medizinisches Cannabis zusätzlich Leben retten (7).
Marktrealität: Wechsel vom Schwarzmarkt und internationale Erfahrungen
Gandjour geht von 400.000 bis 800.000 zusätzlichen Konsumierenden aus, ohne ausreichend zu berücksichtigen, dass viele bisherige Schwarzmarkt-Nutzerinnen und -Nutzer in den legalen Markt wechseln würden (1). Die folgende Tabelle gibt ein differenziertes Bild der internationalen Erfahrungen:
Land / Region | Entwicklung | Besondere Aspekte |
Kanada | Zahl völlig neuer Konsumierender geringer als oft angenommen, überwiegend Verlagerung vom illegalen zum legalen Markt (5) | Sichereres Konsumverhalten durch bessere Information und Produktqualität; in Québec stabile Konsumraten bei gleichzeitiger Reduktion des Schwarzmarkts (4) |
Portugal | Rückgang von Abhängigkeitserkrankungen (6) | Verbesserte Gesundheitsversorgung seit der Entkriminalisierung |
Colorado (USA) | Nach anfänglichem Anstieg stabile Konsumzahlen | Steuereinnahmen werden gezielt für Präventionsprogramme eingesetzt (11) |
Fazit: Massive methodische Mängel schwächen die Aussagekraft der Grandjour Studie
Abschließend lässt sich sagen, dass die Gandjour-Studie unter erheblichen methodischen Schwächen leidet, die ihre Ergebnisse mehr als fragwürdig machen. Der fundamentale Widerspruch in der Behandlung von Verunreinigungsrisiken, die einseitige Fokussierung auf Worst-Case-Szenarien und die Vernachlässigung bekannter Vorteile regulierter Märkte verzerren das Gesamtbild erheblich.
Eine seriöse Bewertung der Cannabis-Legalisierung in Deutschland muss die tatsächlichen Bedingungen eines regulierten Marktes berücksichtigen: saubere Produkte, kontrollierte Abgabe, Verbraucherschutz und Präventionsangebote. Die deutsche Cannabislegalisierung bietet der Bundesregierung die Chance, aus internationalen Erfahrungen zu lernen und ein ausgewogenes Modell zu entwickeln (8,9).
Studien, die mit inkonsistenten Annahmen arbeiten und die Realität regulierter Märkte ignorieren, tragen wenig zur evidenzbasierten Politikgestaltung bei und unterstützen bereits bestehende Vorurteile und Stigmata.
Rechtlicher Hinweis
Dieser Artikel dient ausschließlich der neutralen Information und ersetzt keine ärztliche Beratung. Die Anwendung von medizinischem Cannabis in Deutschland erfordert eine ärztliche Verschreibung und sollte nur unter medizinischer Aufsicht erfolgen.
Quellen
- Gandjour, A. (2025): „A quantitative projection of the net health effects of cannabis legalization in Germany.“ PLOS ONE, 20(9), e0330879. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0330879
- Freeman, T. P. & Winstock, A. R. (2015): „Examining the profile of high-potency cannabis and its association with severity of cannabis dependence.“ Psychological Medicine, 45(15), 3181–3189.
- Cerdá, M. et al. (2020): „Association between recreational marijuana legalization in the United States and changes in marijuana use and cannabis use disorder from 2008 to 2016.“ JAMA Psychiatry, 77(2), 165–171.
- Mekonen Yimer, T. et al. (2025): „The adverse public health effects of non-medical cannabis legalisation in Canada and the USA.“ The Lancet Public Health, 10(2), e148–59.
- Statistics Canada (2023): „Research to insights: Cannabis in Canada.“ Government of Canada Publications.
- Di Forti, M. et al. (2019): „The contribution of cannabis use to variation in the incidence of psychotic disorder across Europe (EU-GEI): a multicentre case-control study.“ The Lancet Psychiatry, 6(5), 427–436.
- Gage, S. H., Hickman, M. & Zammit, S. (2016): „Association between cannabis and psychosis: epidemiologic evidence.“ The Lancet Psychiatry, 3(2), 171–178.
- Whiting, P. F. et al. (2015): „Cannabinoids for Medical Use: A Systematic Review and Meta-analysis.“ JAMA, 313(24), 2456–2473.
- Manthey, J. et al. (2023): „Technischer Bericht: Auswirkungen der Legalisierung von Cannabis.“ Institut für interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung Hamburg.
- Bundesministerium für Gesundheit (2024): „Fragen und Antworten zum Cannabisgesetz.“ Berlin.
- Athanassiou, M. et al. (2023): „The clouded debate: A systematic review of comparative longitudinal studies examining the impact of recreational cannabis legalization on key public health outcomes.“ Frontiers in Psychiatry, 13, 1060656.
- Roberts, B. A. (2019): „Legalized Cannabis in Colorado Emergency Departments: A Cautionary Review of Negative Health and Safety Effects.“ Western Journal of Emergency Medicine, 20(4), 557–572.